Engelwärts in den Sudan

„Engelwärts in den Sudan“ lautete das Motto des Konzerts von Roswitha Aulenkamp
(Klavier) und Theodor Hoffmeyer (Bariton) anlässlich des vierten Sudantages der
Initiative Sudan am 13. Oktober 2012 in der Zisterzienserabtei Himmerod bei
Großlittgen in der Eifel.

Seit 1998 unterstützt die Initiative Sudan als gemeinnütziger Verein Jugendliche,
Schulen und Gemeinden im südlichen Sudan, alle zwei Jahre informieren die
Sudantage über die Projekte in dem zentralafrikanischen Land. Dabei erwarten die
Gäste jedes Mal auch vielfältige künstlerische Darbietungen auf hohem Niveau.
Roswitha Aulenkamp und Theodor Hoffmeyer sind längst eine feste Größe im
Programm der Sudantage geworden – und auch treue Weggefährten der Initiative
Sudan, die ihnen dafür herzlich dankt!

Zu einer Reise engelwärts in den Sudan luden die Pianistin und der Sänger ihr
Publikum diesmal also ein. Was bedeutet das: engelwärts? Das wir von einem der
reichsten Länder der Welt aufbrechen müssen zu einem ihrer ärmsten, wenn wir zu
den Engeln gelangen wollen? Das Erlösung demnach für uns nur möglich ist durch
Hinwendung zu den Schwächsten, die immer auch unsere Schwestern und Brüder
sind? Das Spiritualität nur wahrhaftig sein kann, wenn sie im Einklang mit gelebter
Solidarität erfahren wird?

All das kann dieses engelwärts uns sagen. Ist das ein Zuviel an Interpretation? Nein,
wie die Auswahl der klassischen Werke und der sinnhafte Zusammenhang, in dem
Frau Aulenkamp und Herr Hoffmeyer sie interpretierten, beweist. „Biblische Lieder“
von Antonín Dvořák (1841-1904) und Claude Debussys (1862-1918) „Clair de Lune“ haben sehr viel mit den Menschen im Sudan zu tun. Wir müssen nur lernen, auch mit dem Herzen hören.

In seinen „amerikanischen Jahren“, als der große Komponist Antonín Dvořák  vom Herbst 1892 bis zum Frühjahr 1895 dem National-Konservatorium für Musik in New York als Direktor vorstand, schuf der gebürtige Tscheche neben anderen Werken den Zyklus „Biblische Lieder“.  Es handelt sich hierbei um 10 Gesänge für eine Solostimme mit Klavierbegleitung, die sämtlich auf Texten des alttestamentlichen Buchs der Psalmen in der tschechischen Übersetzung der Kralitzer Bibel beruhen.

Im New York des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dem werdenden melting pot und der aufstrebenden Weltmetropole, ausgerechnet dort fand Dvořák zu einer seiner
eindringlichsten und ergreifendsten musikalischen Schöpfungen. Es waren die
Nachrichten vom Tode der großen Kollegen wie Konkurrenten Pjotr Iljitsch Tschaikowski
und Charles Gounods sowie seines Förderers, des Dirigenten Hans Bülow, die den
Blick des Tschechen nach innen wenden ließen – auf die Menschenseele mit ihren
Regungen zwischen Hoffen und Bangen, Glück und Verzweiflung.

In den biblischen Psalmen fand Dvořák die Facetten all dieser Empfindungen wieder,
Rufe zu Gott in extremen Situationen des Menschseins. Und so wählte der Komponist
mit Bedacht die Psalmen aus, die er für seinen Liederzyklus vertonen wollte; ein
Spektrum der Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz. Fast unverändert
übernahm Dvořák die Psalmentexte; um sich ganz auf sie zu konzentrieren, ordnete er
die Komposition vollkommen den Worten unter, unterstrich und betonte diese nur
und erreichte durch diese radikale Reduktion eine intensive sublime Reinheit, die
den, der zu hören vermag, im Herzen berührt.

Und weil der große Tscheche der gesamten Empfindungswelt des Menschen
Ausdruck verleiht, spricht er nicht nur von sich, seinem singulären „Freud oder Leid“,
sondern vom Menschen schlechthin, von uns allen und unser aller Hoffnungs- und
Erlösungsstreben, in aller Welt und zu allen Zeiten – und ist plötzlich auch den
Menschen im Sudan ganz nah.

Das die Besucherinnen und Besucher des Sudantages diese Empfindungen teilen
konnten, das war das Verdienst von Roswitha Aulenkamp und Theodor Hoffmeyer,
die ihr Publikum stimmlich wie instrumental bewegten und begeisterten.

Vor eine besondere Herausforderung sah Herr Hoffmeyer sich gestellt. Ursprünglich
wollte er die Liedtexte aus dem tschechischen Original ins Deutsche übertragen,
doch wurde ihm bald nur zu bewusst, wie unauflöslich die Komposition an die
Musikalität der tschechischen Sprache gebunden ist. Eine Translation wäre eine
Verfälschung, eine Verletzung der Einheit von Musik und Wort gewesen. So eignete
sich der Bariton die tschechischen Liedtexte an und blieb dem Werke Dvořáks treu.
Das Publikum konnte auf Textblättern mit dem deutschen Übersetzungsansatz Herrn
Hoffmeyers dem Vortrag folgen – und ließ sich von den „Biblischen Liedern“ mit auf
die Reise engelwärts nehmen.

Nicht alle Gäste des Konzerts waren mit klassischer Musik vertraut, doch alle
Zuhörer haben sich sich berühren lassen. Warum? Antonín Dvořák hatte in die Seele
des Menschen geblickt und hat uns in den „Biblischen Liedern“ zeitlos viel darüber
zu sagen. Deshalb müssen wir nicht alle und immer klassische Musik verstehen,
manchmal reicht es aus, dass sie uns versteht.

Diese Erfahrung haben Roswitha Aulenkamp und Theodor Hoffmeyer den
Besucherinnen und Besuchern ihres Konzerts geschenkt.

Doch noch waren die beiden Künstler mit ihrem Publikum nicht am Ende der Reise
engelwärts in den Sudan angekommen. Frau Aulenkamp gedachte eines ständigen
Begleiters eines jeden Reisenden – dem Mond. Und sie widmete einen ganz
besonderen musikalischen Beitrag Pater Stephan Reimund Senge, der, beeindruckt
von einem Aufenthalt im südlichen Sudan im Jahre 1997 die Initiative Sudan
gegründet hatte.

Seit damals reist Pater Stephan jedes Jahr in den Sudan, besucht die unterstützten
Projekte und Menschen, die ihm längst keine Fremden mehr sind. In seinen
Gedichten und Prosatexten, die vom Leben in unserem Land, vom Leben im Sudan,
immer aber von Menschen auf der einen Erde handeln, spricht er immer wieder auch
vom Mond. Der eine Mond, der uns allen scheint, in der Eifel wie in den Nubabergen,
dessen Licht uns aber überall anders anmutet.

„Claire de Lune“ – der Schein des Mondes – heißt eines der berühmtesten Werke
des französischen Komponisten Claude Debussy. Es ist der dritte und
wohl bekannteste Satz der „Suite bergamesque“, eines Klaviersolos aus dem Jahre
1890, das erst 1905 aufgeführt wurde. Roswitha Aulenkamp überraschte mit einer
eigenwilligen, ja mitreißenden Interpretation dieses unbestrittenen Klassikers.

Frau Aulenkamp ließ den Mond für ihr Publikum und für Pater Stephan an jenem
Konzerttag erstrahlen. Wie aber der Glanz des Mondes in jedem Winkel der Welt auf
andere Art seine Pracht entfaltet, so folgte die Pianistin Debussys Werk wie einem
Leitmotiv, das sie in freier, zuweilen gewagter Deutung variierte, um doch immer
wieder zum Hauptthema zurückzukehren.

„Clair de Lune“ schimmerte auch bei geöffnetem Flügel und „handgespielten“
Klavierseiten; leuchtete, wenn die Klänge an Gershwin oder der Sound an Hendrix
erinnerte; funkelte, wenn die Pianistin trommelnd auch die hölzernen Teile des
Instruments ihren Part in der Symphonie spielen ließ.

Und dennoch blieb Einheit in aller Vielfalt, wenn schließlich „Clair de Lune“ auf
vertraute Weise ausklang, so wie der Mond verlässlich seine Bahn am Firmament
zog, zieht und ziehen wird – über der Eifel und über dem Sudan.

Roswitha Aulenkamp und Theodor Hoffmeyer sind mit ihrem Publikum engelwärts
in den Sudan gereist. Angekommen sind sie noch nicht, dafür hat der Mensch noch
einen weiten Weg vor sich. Aber der Weg ist ja das Ziel! Und auf diesem Weg freut
sich die Initiative Sudan auf die kommenden Konzerte der beiden Künstler.

Peter Führer